GALERIE
Überlagerungen der Wirklichkeit
Die gemalten und gezeichneten Bilder von Henri Hohenemser entziehen
sich einer realitätsnahen Deutung. Sie sind Abbild einer eigenen
Wirklichkeit in der Welt der sinnlichen Erscheinung und können als
moderne Variante des Phantastischen Realismus und als Alternative zur
Abstraktion verstanden werden.
Es sind geheimnisvolle, phantastische Welten, in denen Menschen
vereinzelt oder in Gruppen in Szene gesetzt sind, deren Tun sich nicht
sofort erschließt. Sie sitzen, warten, schauen, rauchen, sind ermattet
oder türmen sich zu menschlichen Pyramiden auf.
Auch wenn die Figuren dem Betrachter frontal gegenüber gestellt sind
und ihn scheinbar anblicken, sind sie doch im Wesentlichen mit sich
selbst beschäftigt. Ihr Blick ist gleichgültig, fast provokant
gelangweilt, gelegentlich zum Beispiel durch überdimensionale Brillen
gebrochen.
Hohenemser zeigt kaum Paarbilder, meist erscheinen die Personen nach
Geschlecht getrennt. Während die männlichen Protagonisten, häufig
ratlos mit technischem Gerät hantierend, merkwürdig blass wirken, haben
die weiblichen kahlköpfigen Figuren hohe sinnliche Präsenz, der
sich der Betrachter kaum entziehen kann. Eine leise ironische Brechung
entsteht durch die verzerrten Proportionen der oft schmalen Taillen
im Kontrast zu den üppigen Oberschenkeln und den zu langen Beinen und
spinnengleichen Hände.
Immer wieder wachsen im Hintergrund dicht gesetzte märchenhafte
Stadtlandschaften organisch in die Höhe. Immer wieder sind Wände zu
sehen, die einen instabilen Eindruck hinterlassen oder von den
Protagonisten selbst eingerissen werden. Auch Wasserlandschaften, in
denen beiläufig ein Schiff gerade im Untergang begriffen ist, sind
anzutreffen. Bei den jüngeren Bildern überwiegen im Hintergrund dagegen
monochrome Farblandschaften.
Der Bildaufbau erinnert an eine Bühne. Hier ist eine deutliche
Verbindung zu Hohenemsers langer Tätigkeit als Theaterregisseur zu
sehen. Auch in seinen Bildern weiß er die Protagonisten in Szene zu
setzen, ausgestattet mit Accessoires der modernen Welt. Im Gegensatz
zur Bühne kann er hier freier agieren und sich auf einzelne Szenen als
Momentaufnahmen konzentrieren, ohne auf einen Anfang oder ein Ende
Rücksicht nehmen zu müssen.
Die irreale, manchmal fast surreal anmutende Grundstimmung wird neben
der Motivwahl maßgeblich durch die Wahl der Farben hervorgerufen.
Hohenemser bewegt sich während des Malens aus dem Dunkeln langsam in
die Helligkeit. So sind viele Szenen in nächtlichem oder halbdunklem
Ambiente angesiedelt. Besonderes Interesse hat der Künstler an der
Darstellung von komplexen Lichtsituationen. Ein plötzliches
Aufleuchten, verursacht durch ein natürliches oder künstliches
Blitzlicht, ist ebenso zu sehen wie der fahle Lichtschein eines
Laptops, der die Gesichter der Umstehenden partiell berührt.
Bild für Bild begibt sich der Maler immer wieder aufs Neue auf die
Suche nach einer für das jeweilige Motiv stimmigen Farbsprache. Nach
einem bedächtigen Herantasten ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem
Hohenemser sich in eine Farbtonalität begeben hat, die von da an
bildprägend sein wird.
Das Aufeinanderlegen von transparenten dünnen Farbschichten, das für
Lasurtechnik typisch ist, führt zu intensiv leuchtenden Farbflächen
mit hoher Tiefenwirkung. Durch feinste und sorgfältige Nuancierungen in
der Ton-in-Ton-Malerei wird ein eigener Farbklang erreicht. Es
entstehen keine starken Farbkontraste, Farbakzente werden nur verhalten
gesetzt in Form von akzentuierten Lippen oder Fingernägeln.
Hinzu kommt in seinen Bleistiftzeichnungen die Technik des „Aus- und
Überradierens“, wie es Hohenemser selbst beschreibt. In seinen
Zeichnungen ermöglicht ihm diese selbst entwickelte und perfektionierte
Vorgehensweise Lichteffekte und fließende Farbübergänge in malerischer
Qualität darzustellen. Auch seine Öl- und Acrylbilder sind von diesen
„Radierungen“ geprägt, so dass trotz akkurater Pinselführung, die
manchmal einen altmeisterlichen Anklang hat, gleichzeitig ein Hauch von
weicher Zeichnung in den Bildern zu erspüren ist.
Gerade diese Ambivalenz zwischen exakter Malweise und der Setzung von
weichen Farbübergängen verleiht der Malerei von Hohenemser eine sehr
eigenständige Ausstrahlungskraft und Struktur, die sich auch auf die
dargestellten Motive überträgt. Diese auf den ersten Blick so starken
und unnahbaren Gestalten zeigen dem Betrachter auch ihre verletzliche
Seite und sind damit ebenso Ausdruck einer vielschichtigen gedanklichen
Struktur.
Birgit Brunk